Paul Jerchel ist Student der Mechatronik an der Beuth Hochschule für Technik Berlin und hat sich mit der Implementierung partizipativer digitaler Lehrformen in der Hochschullehre – beispielsweise unter dem Gesichtspunkt der Prinzipien der „Liquid Democracy“ – befasst. Wir haben ihn dazu interviewt.
Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit digitalen Themen in der Hochschullehre zu befassen?
Ich bin nach meinem Studienwechsel von der Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre zur Mechatronik stärker studentisch aktiv geworden, was möglicherweise auch mit dem Wechsel von der Universität zur Fachhochschule zu tun hatte, wo die Lehre nochmal ein bisschen verschulter ist. Diese Freiheit der Universität habe ich wohl vermisst. Zeitgleich ist aber so gut wie allen Studierenden in den letzten Jahren die große Lücke zwischen der Art, im Privaten und Beruflichen technisch zu kommunizieren gegenüber der Art, an den Hochschulen und Universitäten zu kommunizieren deutlich geworden. Viele Lehrkräfte betonen, in der Uni würde man inhaltlich tiefgründiger kommunizieren, was mir nicht ganz zu stimmen und eher zu verdecken scheint, dass die Agilität, sich in an die neuen Techniken anzupassen, in den Hochschulen geringer ausgeprägt ist, als dies an Bildungseinrichtungen meiner Ansicht nach sein sollte.
Spielte in ihrem bisherigen Studienverlauf studentische Partizipation an der Gestaltung der Lehre eine große Rolle?
Ich habe in vielen studentischen oder akademischen Gremien gesessen und diese bisherigen Arten der Partizipation mitbekommen und selbst wahrnehmen dürfen. Es gab auch immer wieder Versuche von Lehrkräften, Wahlmöglichkeiten für die Studierenden in ihren Lehrveranstaltungen zu offerieren. Ich habe dabei bloß das Gefühl gewonnen, dass die Dialoge, die auf Plattformen wie E-Teaching, im Hochschulforum Digitalisierung oder in der Mediendidaktik geführt werden, sehr viel weiter sind als die Realität in der Hochschule sowie, dass dieser Diskurs von Lehrkräften in ihrer Lehre vollständig ausgeblendet werden kann.
Haben Sie da ein Beispiel?
Bisher ist es eher üblich, dass Studierende eigene Referatsthemen aus vorgegebenen Listen auswählen oder grobes Feedback geben können, in welchen Bereich der Vorlesung oder des Seminars sie tiefer eintauchen möchten. Das sind aber sehr kleine Partizipationsmöglichkeiten, weil sie keine aktive Wahlmöglichkeit eröffnen. Was ich mir persönlich wünschen würde und was auch von studentischen Nachhaltigkeitsinitiativen gefordert wird, ist die Möglichkeit, 1. eigene Themen einzubringen, die in den groben Sinnzusammenhang der Lehrveranstaltung passen, 2. die Arbeit über Module und Fachbereiche hinweg durch Projekte zu etablieren sowie 3. die Möglichkeit, eigene studentische Lehre zu machen. Wir sehen es immer wieder, dass in den anwendungsorientierten Fächern – beispielsweise, wenn es im Ingenieurwesen um fachspezifische Software geht – die Studierenden durchaus mit den Lehrenden mithalten können. Das heißt, dass dort die Hierarchieebenen der klassischen Lehre keinen Sinn mehr machen. Deswegen glaube ich, dass es auch die Möglichkeit geben muss, in der Lehre von den bisherigen Rollen Abstand zu nehmen und das Ganze mehr als Gruppenprozess zu begreifen, indem sich mit unterschiedlichen Wissensständen ausgetauscht, gegenseitig angeleitet und ein gemeinsamer Erfolg erreicht wird.
Was macht es zurzeit noch schwierig, sich in diese Richtung zu bewegen?
Ich denke dafür sind vor allem die genannten klassischen Rollenverständnisse verantwortlich. Viele Lehrkräfte verstehen sich als Autorität und sind ja auch dazu berufen worden, dies so zu vertreten. Das hat gepaart mit dem Wissensvorsprung, den Lehrkräfte über Gremienarbeit und ähnliches haben, dazu geführt, dass Lehrkräften teilweise richtiggehend versperrt ist, auf Augenhöhe zu kommunizieren.
Welche Unterstützung bräuchten Studierende, um diese Schwierigkeiten zu überwinden?
Ich denke, ein Weg wäre, die studentische und akademische Selbstverwaltung durch zusätzliche Mechanismen zu unterstützen – beispielsweise durch Elemente der „Liquid Democracy“ oder softwaregestützte Meinungsbilder. Dies würde die Gremienarbeit beidseitig für Partizipation öffnen. Die Ausrichtung der Modulpläne sowie der Lehrveranstaltungen als auch der Laborabläufe erfolgt ja normalerweise über die Curricula-Festlegung und die Steuerungsmechanismen in den Dekanaten und Fachgebieten – sprich: durch die klassische Gremienarbeit. Wenn ich also hier einen höheren Informationsgrad gegenüber den nicht in Gremien aktiven Studierenden ermögliche, können diese Studierenden sich sehr viel einfacher über den Fortschritt und den Stand in bestimmten Bereichen informieren, ohne Dutzende Protokolle von Dekanats- oder Fakultätsratssitzungen lesen zu müssen. Bezogen auf die genannten Software-Elemente wäre es beispielsweise hilfreich für Studierende und Lehrende, die Entscheidungsprozesse nicht nur nachvollziehen zu müssen, sondern auch im Vorhinein bereits Meinungsbilder zu bestimmten anstehenden Entscheidungsfragen von der Studierendenschaft vorliegen zu haben. Das ist denke ich auch kein Widerspruch zur studentischen Selbstverwaltung, sondern eher eine Ergänzung, die nochmal viel mehr ein Bewusstsein schafft über die Entwicklungen an der Hochschule und wie Mitbestimmung funktionieren kann. In der deliberativen Demokratietheorie wird das auch als Konsultative diskutiert.
Wie könnte so eine Meinungsumfrage im Rahmen der von ihnen genannten „Liquid Democracy“-Prinzipien aussehen?
Ich denke, erstmal müssen Protokolle und Beschlusspunkte von vergangenen Gremiensitzungen als Grundlage in einer Art und Weise aufbereitet und bereitgestellt werden, dass man sich nicht durch einzelne Punkte in einzelnen Dokumenten wühlen muss, sondern, dass die dort festgehaltenen Entwicklungsstränge nachvollziehbar werden. Das muss auch visuell gut aufbereitet und diese Aufbereitung automatisiert oder mit wenig Aufwand zu händeln sein. Nicht nur muss das Verstehen des Vergangenen gewährleistet sein, sondern es muss auch verstehbar werden, was in Zukunft geplant ist. So können dann die Techniken der Liquid Democracy in Form von beispielsweise Meinungsumfragen, die es auf zahlreichen Open Source-Plattformen sowie auch von privaten Anbietern gibt, angewandt werden – also in einem Online-Umfrage-Tool, wo sich Studierende und Hochschulangehörige leicht einwählen und dort ihre Meinung festhalten können, was wiederum dann mindestens von den entsprechenden Personen, die auf Basis dieser Meinungsbilder arbeiten wollen, eingesehen werden kann. Daneben besteht die Möglichkeit, einzelne Thesen durch gewichtbare Gegenüberstellung von Argumenten abzuwägen und von ihrer Vergänglichkeit in allzu angeheizten oder komplexen Debatten zu lösen. Diese Techniken könnten durch Fachleute relativ einfach in E-Learning-Plattformen wie Moodle integriert werden. Ob das aus dem Umfeld des Bündnis Freie Bildung, einer „Koalition der Willigen“ oder gar einer auf den europäischen Raum erweiterten Genossenschaft für Hochschulinformationssysteme geschehen kann, ist dabei gleich. In jedem Fall würde ein solches Vorhaben an der Qualität dieser Einbindung und Verwebung mit bestehenden Hochschulprozessen gelingen oder scheitern.
Die von ihnen genannten Gremien können zwar Beschlüsse fassen, aber die Umsetzenden sind schlussendlich die Lehrenden und Studierenden selbst. Wie könnte in Ihrer Konzeption der Erweiterung dieser Gremienarbeit die Veränderungswirkung in den Lehrveranstaltungen erhöht werden?
Wünschenswert ist generell, dass die Veränderungen von dieser Detailebene selbst kommen und nicht oktroyiert werden, aber gerade, wenn Studierende und Lehrende das Wissen um die Möglichkeiten in diesem Bereich noch nicht angeeignet haben, ist es schwer diesen Wandel anzugehen. Insoweit denke ich, dass diese Impulse „von oben“ ein Ansatzpunkt sein sollten, Wandel anzustoßen – insbesondere durch den Hinweis, dass diese Freiräume in der Lehrgestaltung möglich und auch erwünscht sind. Die Bereitstellung von entsprechender Software und Schulungen kann schon ein maßgeblicher Schritt in diese Richtung sein. Dennoch ist letztendlich in der Lehrveranstaltung sowie in den Weiterbildungsmöglichkeiten und Berufungen der Lehrkräfte der Schlüssel zu einer nachhaltigen Veränderung bis hin zu einem Paradigmenwechsel zu suchen. Häufig merke ich bei Lehrkräften noch eine gewisse Verschlossenheit und Unsicherheit, wenn es darum geht, über die eigene Lehrveranstaltung hinaus zu kooperieren und Verantwortung zu übernehmen. Das finde ich auch ganz verständlich, da jeder erstmal vor allem in seinem Gebiet der Experte ist. Auch in diesem Fall können die Einrichtung der technischen Rahmenbedingungen für kollaborative Lehrformen Sicherheit schaffen und Eigeninitiative ermöglichen, sodass Lehrende sich in Kombination mit den öffnenden Hinweisen „von oben“ befähigt sehen, Neues auszuprobieren.
Wie würde ich jetzt als Studierender das Nutzen solcher Instrumente in meiner Lehrveranstaltung angehen können?
Ich würde mit weiteren an solchen Lehrformen interessierten Studierenden auf die Lehrperson zugehen und ihr vorschlagen, eine Plattform aus dem Bereich der technisch gestützten kollaborativen Lehrformen wie beispielsweise Wikiversity zu nutzen – am besten direkt in Verbindung mit niedrigschwelligen Einführungen. Häufig ist es auch eine Erleichterung für die Lehrenden, wenn seitens der Studierenden in solchen Bereichen Hilfe angeboten wird. Dafür lohnt es sich, auch auf hochschulweiter Ebene in Erfahrung zu bringen, ob derartige Angebote dort bereits bestehen und in anderen Lehrveranstaltungen angeboten werden. Es ist hilfreich, vorher darüber nachzudenken, welche Zweifel und Unsicherheiten bei der Lehrkraft bestehen können. Diese können dann beispielsweise durch erklärendes Material in weiterführenden Links ausgeräumt werden.
Wie würde die Umsetzung eines solchen Beispiels im Falle von Wikiversity dann aussehen?
Auf der Wikiversity-Startseite kann man direkt von Lehrenden entworfene Beispiele zu verschiedenen Lehrveranstaltungen einsehen. Der Lehrveranstaltungsverlauf wurde dafür jeweils in Form des schlichten Wikipedia-Designs in die Plattform übertragen. Darin ist dann auch jede Lehreinheit beliebig gestaltbar. Beispielsweise kann man bisher bestehende Präsentationen dort hochladen oder Lernerfolgskontrollen in Form von Fragen zu Veranstaltungsteilabschnitten einfügen – der große Vorteil ist dabei, dass bestehende Inhalte und damit auch gesammeltes Wissen Stück für Stück ergänzt werden können. Man kann sich denke ich gut vorstellen, wie wirkungsvoll es sein kann, dass so Studierende sich darin freiwillig üben können, ihr Wissen zu sammeln, zu artikulieren und zu präzisieren. Das gilt erweitert gedacht auch für andere Lehrpersonen oder Fachangehörige, die über diesen Kurs stolpern und die dann selbst weitere Details hinzufügen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, direkt an den Artikeln auf der offiziellen Wikipedia-Plattform zu arbeiten. Letztendlich wird es denke ich damit darum gehen, die Säulen – oder besser: Silos – der Hochschule (Lehre, Forschung, Weiterbildung und der gesellschaftliche Transfer) in ihrer Trennung aufzubrechen, indem wir durch offene Veranstaltungen, Reallabore usw. auf die anderen gesellschaftlichen Bereiche zugehen. Wenn beispielsweise an einer technischen Hochschule mit 10.000 Studierenden alle während ihres Studiums die 10-prozentige Arbeitsleistung eines vollwertigen Ingenieurs erbringen, so sind das im Idealfall Arbeitsstunden von 1.000 Ingenieuren, die unter anderem durch Open-Source-Soft- und -Hardware, Open Access und Open Educational Ressources für die Gesellschaft – gerade in gemeinnützigen Projekten – nutzbar gemacht werden können. Diese Möglichkeit ist denke ich auch nicht nur auf den technischen Bereich beschränkt, sondern ist in allen Wissenschaftsbereichen vorhanden.
Das Interview führte Eric Recke.
12. Mai 2020 um 14:35 Uhr
Sehr verstaendlicher Text. Gute Argumentationsketten und nachvollziehbare Beweggruende. Viel Erfolg beim Foerdern und Fordern.